Vortrag und „hitzige Debatten“ zum Menschenzeitalter

13.04.2021

Wie viele Versionen des Anthropozäns gibt es? Dies ist Thema einer Studie der Anthropocene Working Group, an der auch Michael Wagreich und Eva Horn von der Universität Wien beteiligt sind. Das Konzept Anthropozän sorgt fachübergreifend für teilweise hitzige Diskussionen, dies wirkt aber auch als Beschleuniger, argumentieren die Studien-Autor*innen. Zu den Diskussionen innerhalb der Anthropocene Working Group hielt Hauptautor Jan Zalasiewicz am 13.04.2021 einen Vortrag im Rahmen der Anthropozän-Ringvorlesung an der Universität Wien.

Eine erfolgreiche wissenschaftliche Idee lässt sich unter anderem daran erkennen, wie schnell sie sich entwickelt und entfaltet. Im Fall des Anthropozäns hat sich diese konzeptuelle Entwicklung mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit abgespielt. Im Jahr 2000 stellte Nobelpreisträger Paul Crutzen (Nachruf, 24. Feb. 2021) die Hypothese auf, dass die Erde seit der Industrialisierung durch menschliche Aktivitäten so stark verändert worden sei, dass dies den Beginn einer neuen geologischen Epoche markiere.

Ursprünglich wurde die Idee des Anthropozäns von Erdsystemwissenschaftlern im Zuge ihrer Arbeit zu globalen Umweltveränderungen entwickelt. Bald darauf begannen Erdwissenschaftler*innen, das Anthropozän zu untersuchen, um festzustellen, ob es tatsächlich formal als neue Epoche auf der geologischen Zeitskala anerkannt werden könne.

Über die Naturwissenschaften hinaus

„Die Forschungen und Verhandlungen dazu sind in der Geologie in vollem Gange“, beschreibt Michael Wagreich vom Institut für Geologie der Universität Wien. Das Anthropozän breitete sich jedoch rasch über die Naturwissenschaften hinaus aus: „Insbesondere auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften inspirierte es zahlreiche und höchst unterschiedliche Forschungen“, erklärt die Germanistin Eva Horn von der Universität Wien, die gemeinsam mit Wagreich das Vienna Anthropocene Network leitet. Im Zuge dieser grundlegenden Neuausrichtung verschiedenster Wissenschaften mit ganz unterschiedlichen Perspektiven kamen allerdings auch Fragen dazu auf, was das Anthropozän jeweils genau sei und wann es seinen Anfang nahm.

Anthropozän-Konzept inspirierte zahlreiche und höchst unterschiedliche Forschungen

Crutzen hatte ursprünglich die Industrielle Revolution im späten 18. Jahrhundert als Beginn des Anthropozäns vorgeschlagen, nachfolgende Untersuchungen der internationalen Anthropocene Working Group (AWG) ergaben jedoch eine neue Einschätzung: „Die größten Veränderungen von Weltbevölkerung, Industrialisierung, Globalisierung haben im Zuge der ‘Great Acceleration’ stattgefunden, dem wirtschaftlichen Boom Mitte des 20. Jahrhunderts nach Ende des Zweiten Weltkrieges“, erläutert AWG-Mitglied Jan Zalasiewicz von der Universität Leicester.

Energieverbrauch, Plastik und Supermarkt-Hühner

„In dieser kurzen Zeitspanne – etwas weniger als die durchschnittliche Lebensdauer eines Menschen – hat die Menschheit mehr Energie verbraucht als in mehr als zwölf Jahrtausenden davor“, kommentiert Wagreich von der Universität Wien. Dieser enorme Energieverbrauch treibt die physikalischen, chemischen und biologischen Veränderungen der Erde voran, die heute das Klima und die Biosphäre destabilisieren. Die Spuren in modernen Gesteinsschichten, die dadurch entstehen - etwa Plastikteile, Beton oder auch die Knochen von "Supermarkt-Hühnern",  liefern geologische Hinweise auf das Anthropozän.

Wenn man das Anthropozän allerdings mit Fokus auf die Menschheit betrachtet, dann lassen sich signifikante menschliche Einflüsse auf die Umwelt erkennen, die Jahrtausende zurückreichen. Sollte man den Beginn des Anthropozäns somit auf diese frühesten feststellbaren menschlichen Einflüsse, wie etwa das Roden von Wäldern, die Domestizierung bestimmter Tierarten, die Ausbreitung von Ackerflächen oder den ersten Kontakt zwischen der „Neuen“ und „Alten Welt“, datieren? Und wenn man all diese Aspekte berücksichtigt, was ist das Anthropozän dann genau? "Dazu entstanden teils hitzige Debatten", erzählt Wagreich.

Verschiedene Anthropozän-"Versionen"

Eine neue multi-disziplinäre Studie der Anthropocene Working Group und anderer Wissenschaftler*innen, die nun im Journal Earth's Future veröffentlicht wurde, hat sich diese komplexen Fragen gestellt. Klar wird hier, dass es je nach wissenschaftlicher Perspektive unterschiedliche ‚Versionen‘ des Anthropozäns und seiner Herausforderungen gibt. Während die Naturwissenschaften die verschiedenen Symptome und Signale des Anthropozäns analysieren, ist es Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Dimension menschlicher Verantwortung dafür in den Blick zu nehmen.

Die Autor*innen der vorliegenden Studie stammen aus allen drei Wissenschaftsfeldern und fordern verstärkt inter- und multi-disziplinäre Debatten. Gleichzeitig ist klar, dass eine Formalisierung des Anthropozäns in der Geologie die Deutung und Verwendung des Begriffs stabilisieren würde. Dies ist entscheidend für den gesellschaftlichen Umgang mit den zahllosen Herausforderungen des Anthropozäns.

Abbruchhaus, Beton. Foto: CC, Menno de Jonga auf Pixabay

Um das Konzept des Anthropozäns, des Menschzeitalters, und anhand welcher Sedimentsspuren man es festmachen könnte - von Radioaktivität bis hin zum Beton - wird in den Naturwissenschaften seit dem Jahr 2000 diskutiert. Foto: CC, Menno de Jonga auf Pixabay

Plastikmüll Foto: epSos.de on Flickr/CC 2.0

Auch Plastik oder die Knochen von Supermarkt-Hühnern lassen sich in den Sedimenten nachweisen. Doch das Anthropozän wird mittlerweile weit über die Naturwissenschaften hinaus diskutiert. Foto: epSos.de on Flickr/CC 2.0

Eva Horn. Foto © Helmut Grünbichler

„Insbesondere auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften inspirierte es zahlreiche und höchst unterschiedliche Forschungen“, erklärt die Germanistin Eva Horn von der Universität Wien, die gemeinsam mit dem Geologen Michael Wagreich das Vienna Anthropocene Network leitet. Foto: © Helmut Grünbichler

Michael Wagreich Foto: © Martin Lifka

Im Zuge dieser grundlegenden Neuausrichtung mit ganz unterschiedlichen Perspektiven entstanden dann "teils hitzige Debatten" darüber, was das Anthropozän eigentlich sei - und viele verschiedene Anthropozän-Versionen, erzählt Wagreich. Foto: © Martin Lifka

Jan Zalasiewicz Foto: privat

Zum Thema "The Anthropocene Working Group and the stratigraphic definition of the Anthropocene" hielt Jan Zalasiewicz, Hauptautor der aktuellen Studie und Mitglied der Working Group, am 13. April 2021 einen Vortrag an der Universität Wien. Interessierte sind herzlich willkommen! Foto: Jan Zalasiewicz (privat)