Eine erfolgreiche wissenschaftliche Idee lässt sich unter anderem daran erkennen, wie schnell sie sich entwickelt und entfaltet. Im Fall des Anthropozäns hat sich diese konzeptuelle Entwicklung mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit abgespielt. Im Jahr 2000 stellte Nobelpreisträger Paul Crutzen (Nachruf, 24. Feb. 2021) die Hypothese auf, dass die Erde seit der Industrialisierung durch menschliche Aktivitäten so stark verändert worden sei, dass dies den Beginn einer neuen geologischen Epoche markiere.
Ursprünglich wurde die Idee des Anthropozäns von Erdsystemwissenschaftlern im Zuge ihrer Arbeit zu globalen Umweltveränderungen entwickelt. Bald darauf begannen Erdwissenschaftler*innen, das Anthropozän zu untersuchen, um festzustellen, ob es tatsächlich formal als neue Epoche auf der geologischen Zeitskala anerkannt werden könne.
Über die Naturwissenschaften hinaus
„Die Forschungen und Verhandlungen dazu sind in der Geologie in vollem Gange“, beschreibt Michael Wagreich vom Institut für Geologie der Universität Wien. Das Anthropozän breitete sich jedoch rasch über die Naturwissenschaften hinaus aus: „Insbesondere auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften inspirierte es zahlreiche und höchst unterschiedliche Forschungen“, erklärt die Germanistin Eva Horn von der Universität Wien, die gemeinsam mit Wagreich das Vienna Anthropocene Network leitet. Im Zuge dieser grundlegenden Neuausrichtung verschiedenster Wissenschaften mit ganz unterschiedlichen Perspektiven kamen allerdings auch Fragen dazu auf, was das Anthropozän jeweils genau sei und wann es seinen Anfang nahm.
Anthropozän-Konzept inspirierte zahlreiche und höchst unterschiedliche Forschungen
Crutzen hatte ursprünglich die Industrielle Revolution im späten 18. Jahrhundert als Beginn des Anthropozäns vorgeschlagen, nachfolgende Untersuchungen der internationalen Anthropocene Working Group (AWG) ergaben jedoch eine neue Einschätzung: „Die größten Veränderungen von Weltbevölkerung, Industrialisierung, Globalisierung haben im Zuge der ‘Great Acceleration’ stattgefunden, dem wirtschaftlichen Boom Mitte des 20. Jahrhunderts nach Ende des Zweiten Weltkrieges“, erläutert AWG-Mitglied Jan Zalasiewicz von der Universität Leicester.
Energieverbrauch, Plastik und Supermarkt-Hühner
„In dieser kurzen Zeitspanne – etwas weniger als die durchschnittliche Lebensdauer eines Menschen – hat die Menschheit mehr Energie verbraucht als in mehr als zwölf Jahrtausenden davor“, kommentiert Wagreich von der Universität Wien. Dieser enorme Energieverbrauch treibt die physikalischen, chemischen und biologischen Veränderungen der Erde voran, die heute das Klima und die Biosphäre destabilisieren. Die Spuren in modernen Gesteinsschichten, die dadurch entstehen - etwa Plastikteile, Beton oder auch die Knochen von "Supermarkt-Hühnern", liefern geologische Hinweise auf das Anthropozän.
Wenn man das Anthropozän allerdings mit Fokus auf die Menschheit betrachtet, dann lassen sich signifikante menschliche Einflüsse auf die Umwelt erkennen, die Jahrtausende zurückreichen. Sollte man den Beginn des Anthropozäns somit auf diese frühesten feststellbaren menschlichen Einflüsse, wie etwa das Roden von Wäldern, die Domestizierung bestimmter Tierarten, die Ausbreitung von Ackerflächen oder den ersten Kontakt zwischen der „Neuen“ und „Alten Welt“, datieren? Und wenn man all diese Aspekte berücksichtigt, was ist das Anthropozän dann genau? "Dazu entstanden teils hitzige Debatten", erzählt Wagreich.
Verschiedene Anthropozän-"Versionen"
Eine neue multi-disziplinäre Studie der Anthropocene Working Group und anderer Wissenschaftler*innen, die nun im Journal Earth's Future veröffentlicht wurde, hat sich diese komplexen Fragen gestellt. Klar wird hier, dass es je nach wissenschaftlicher Perspektive unterschiedliche ‚Versionen‘ des Anthropozäns und seiner Herausforderungen gibt. Während die Naturwissenschaften die verschiedenen Symptome und Signale des Anthropozäns analysieren, ist es Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Dimension menschlicher Verantwortung dafür in den Blick zu nehmen.
Die Autor*innen der vorliegenden Studie stammen aus allen drei Wissenschaftsfeldern und fordern verstärkt inter- und multi-disziplinäre Debatten. Gleichzeitig ist klar, dass eine Formalisierung des Anthropozäns in der Geologie die Deutung und Verwendung des Begriffs stabilisieren würde. Dies ist entscheidend für den gesellschaftlichen Umgang mit den zahllosen Herausforderungen des Anthropozäns.
- Vortrag von Jan Zalasiewicz (University of Leicester): The Anthropocene Working Group and the stratigraphic definition of the Anthropocene. Der Vortrag fand am 13. April 2021 im Rahmen der Ringvorlesung Anthropozän (via Zoom) statt.
- Die bisherigen Beiträge der Ringvorlesung sind auf der Homepage des Forum Anthropozän als Download verfügbar.
- Studie im Journal Earth's Future: Zalasiewicz, J. Waters, C.N., Ellis, E.C., Head, M.J., Vidas, D., Steffen, W., Thomas, J.A., Horn, E., Summerhayes, C.P., Leinfelder, R., McNeill, J.R., Gałuszka, A., Williams, M., Barnosky, A.D., Richter, D. DeB., Gibbard, P.L., Syvitski, J., Jeandel, C., Cearreta, A., Cundy, A.B., Fairchild, I.J., Rose, N.L., Ivar do Sul, J.A., Shotyk, W., Turner, S., Wagreich, M. & Zinke, J. 2021. The Anthropocene: comparing its meaning in geology (chronostratigraphy) with conceptual approaches arising in other disciplines. Earth’s Future.