Quo vadis homo digitalis? Tagung diskutiert multiple Identitäten von Jugendlichen
24.05.2019
Die Jugendlichen von heute als „Smombies“ (Smartphone-Zombies)? Oder vielmehr als Meister der multiplen Verortung in digitalen und analogen Räumen? Die Tagung „MiDENTITY under construction“ nahm die Identitätskonstruktionen von Jugendlichen im (medialen) Raum in den Blick. Diskutiert wurden sowohl die Mediennutzung als auch verschiedene Formen von Zugehörigkeit – sei es zur EU, zu Nationen oder auch zu Städten. Neben WissenschafterInnen und LehrerInnen nahmen auch zahlreiche Jugendliche teil. Die gemeinsame Forderung: Es braucht analoge Kompetenzen für digitale Medien.
Veranstaltet wurde die Konferenz von der Arbeitsgruppe „Fachdidaktik Geographie und wirtschaftliche Bildung“ der Universität Wien am 25. April 2019 im Bruno-Kreisky-Forum. Am 26. April nahmen SchülerInnen aus drei Wiener Schulen am Institut für Geographie und Regionalforschung (IfGR) an Workshops zum Thema teil.
Wie viele Stunden täglich nutze ich die Medien? Wo fühle ich mich zugehörig? – Diese Fragen wurden zunächst über eine Aktivierungsübung gestellt. Dabei zeigte sich, wie stark die Begriffe von Medien und Zugehörigkeit auseinanderdriften: Soziale Medien oder auch klassische? Ist Zugehörigkeit durch die Staatsbürgerschaft bestimmt, durch Familienbande oder vielleicht auch über national-typische Gerichte oder Fußball-Vorlieben? „Damit wurden Fragen aufgeworfen und dadurch das thematische Feld aufgespannt“, erklärt Christiane Hintermann, Leiterin des Projekts „MiDENTITY“ am Institut für Geographie und Regionalforschung.
Foto: TeilnehmerInnen der Tagung am 25. April reflektieren die tägliche Dauer Ihrer privaten Mediennutzung. © Walter Skokanitsch
Die Keynote der Konferenz hielt Peter Hopkins, Geograph von der Universität Newcastle (UK). Er forscht zu den räumlichen Identitäten von Jugendlichen. Insbesondere hob er hervor, dass sich Fremdzuschreibungen, die der eigenen Identitätsdefinition von Jugendlichen widersprechen, negativ auswirken können – sowohl auf personaler als auch auf sozialer Ebene. Gemeinsam mit Jugendlichen entwickelte er einen Guide für partizipative Forschung mit jungen Menschen und damit ein Fundament für zukünftige partizipative Forschungsprojekte – auch in Österreich.
Foto: Peter Hopkins eröffnet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner Keynote zu "Young People, Place and Identity: politics, pedagogy and participation" © Walter Skokanitsch
Wie aus Jagd- und Sammelgemeinschaften „Smombies“ (Neologismus aus Smartphone und Zombies) wurden, zeigte der Geograph und Didaktiker Robert Vogler von der Universität Salzburg auf. Die Verschmelzung der digitalen mit der physisch-materiellen Handlungssphäre zu einem multidimensionalen Identitätenkonglomerat hat ihm zufolge vielfältige und tiefgreifende Konsequenzen für Gesellschaft und Individuen. Ausgehend von Anthony Giddens‘ Strukturierungstheorie und empirischen Befunden zu aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen, stellte er die große Frage „What’s next?“ in den Raum: Quo vadis homo digitalis?
Foto: Robert Vogler umreißt durch technologischen Fortschritt induzierte Gesellschaftsumbrüche von der Urzeit bis heute. What's next? © Isabel Kern
Die Bildungs- und Sozialwissenschafterin Barbara Herzog-Punzenberger von der Universität Innsbruck thematisierte das dialektische Feld der Differenz. Sie zeigte auf, wie Lehrende in heterogenen Lernendengruppen handeln könnten. Dabei schlug sie die Brücke zwischen wissenschaftlicher Forschung und der gesellschaftlichen und schulischen Praxis – auch durch die Einbeziehung des Publikums.
Foto: Barbara Herzog-Punzenberger spannte die Dialektik der Differenz auf, um daraus Handlungsaufforderungen für Lehrende abzuleiten. © Matthias Fasching
Während der Workshop-Phase konnten die Tagungs-TeilnehmerInnen die für Jugendliche im Rahmen des „MiDENTITY“-Projekts konzipierten Methoden testen. In Gruppendiskussionen setzten sie sich etwa mit Ideen und Vorstellungen von identitätskonstitutiven Faktoren und deren Bedeutung auseinander, wodurch Unterschiede zwischen eigenen und fremden Wahrnehmungen, Schwerpunkten und Definitionen deutlich wurden. An weiteren Stationen konnte man u.a. anhand von analogen Likes und Dislikes Prozesse und ihre Effekte in digitalen sozialen Medien reflektieren und erste Ergebnisse der Befragung zum Thema natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten erfahren.
Foto: Angeregt diskutierten die WorkshopteilnehmerInnen Begriffe wie "Identität", "Kultur" und "Nation" sowie deren Bedeutungen im Garten des Bruno-Kreisky-Forums. © Matthias Fasching
Das im Projekt „MiDENTITY“ entwickelte Handbuch zur kritischen Medienanalyse für SchülerInnen wurde an Werbeplakaten getestet. Ähnlich wie zuvor den Jugendlichen erschlossen sich auch den TagungsteilnehmerInnen erst bei der eingehenden Betrachtung und Reflexion tiefere Bedeutungsebenen.
Foto: Die Kritische Analyse von Werbeplakaten (als Beispiel für Medien) machte den engen Zusammenhang von medialer Repräsentation und gesellschaftlichen Produktionsbedingungen mit der Konstruktion der eigenen Identitäten deutlich. © Matthias Fasching
Den Abschluss des ersten Tages der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Im medialen Spiegelkabinett. Identitätskonstruktionen und kritische Medienbildung in der Schule“. SchülerInnen und ein Lehrer aus den Projektklassen diskutierten mit ExpertInnen der Jugendkulturforschung, der Fachdidaktik, der Medienbildung und des gesellschaftlichen Wandels. Thema war unter anderem, welche Fähigkeiten und welches Wissen (junge) Menschen für eine bewusste und reflektierte Nutzung von Medien brauchen. Dabei fanden alle TeilnehmerInnen zu einer gemeinsamen Forderung: Analoge Kompetenzen für digitale Medien!
Foto: In der Podiumsdiskussion am Abend, moderiert von Christiane Hintermann (links, Universität Wien), trafen unterschiedlichen Positionen und Perspektiven aufeinander. Ihr Fazit: Auch im medialen Spiegelkabinett bedarf es analoger Fähigkeiten zur Orientierung. V.l.n.r.: Christiane Hintermann, Anastasia Popovic und Amra Mujcinovic (Schülerinnen am Schulzentrum Ungargasse), Herbert Pichler (Universität Wien, Schulzentrum Ungargasse), Renate Holubek (Mediamanual), Ali Rami (think.difference), Philipp Ikrath (Institut für Jugendkulturforschung), und Robert Vogler (Universität Salzburg). (© Matthias Fasching)
Tag zwei war der eigentlichen Zielgruppe der Projektarbeit gewidmet: Drei Schulklassen unterschiedlicher Schultypen und Standorte in Wien nahmen dabei an einem Intensiv-Workshop teil. In schulübergreifenden Gruppen vergaben sie etwa „analoge Likes und Dislikes“ und reflektierten über soziale und identitätskonstituierende Faktoren der Mediennutzung sowie Strategien für eine selbstbestimmte und bewusste Medienpraxis.
Foto: Am Freitag vergaben Schülerinnen und Schüler analoge Likes und Dislikes und reflektierten dabei mögliche Auswirkungen ihrer medialen Praxis sowie Spielräume für selbstbestimmte Handlungen im medialen Raum. © Walter Skokanitsch
Die Jugendlichen diskutierten „Identität“ als erfahrungsbasiert, hybride und dynamisch – allerdings in ihren eigenen Worten: Sie seien von unterschiedlichsten Umwelteinflüssen geprägt, erklärten die SchülerInnen: Von der „Familie“, „Erziehung“, „Freundeskreis“, „Freizeitaktivitäten“, beispielsweise. Kontrovers diskutierten sie jedoch, wie wichtig die einzelnen Aspekte jeweils sind und wie hoch der Grad des „Ausgeliefertseins“ bzw. der möglichen „Selbstbestimmung“ ist: Wie sehr kann ich entscheiden, was ich in mein Selbstkonzept einbeziehe, und was ich ausblende?
Foto: Auch bei den Jugendlichen lösten die Frage nach ihrer Konzeption von "Identität" Nachdenken und diverse Debatten aus. © Judith Schnelzer
Projekt MiDENTITY
- Das Sparkling Science-Projekt "MiDENTITY", das von September 2017 bis August 2019 läuft, untersucht, wie Wiener Jugendliche sich selbst und andere definieren und welche Rolle soziale Medien dabei spielen. Dabei wurde auch erforscht, welche Identitätskonzepte sie für diese soziale, räumliche und kulturelle Selbstverortung sowie für Fremdzuschreibungen verwenden. Über die Fragebogenerhebung hinaus wurde gemeinsam mit SchülerInnen und LehrerInnen dreier Projektklassen ein Konzept zur Verankerung von politischer Bildung und kritischer Medienbildung in der Schule erarbeitet.
- Projektleitung: Christiane Hintermann