Der historische Neusiedler See: Von Austrocknung bis 2,5 Meter plus

04.10.2022

Um den Neusiedler See ist im Sommer angesichts der Wasserstände eine heiße Diskussion entstanden – die Fronten verlaufen dabei zwischen denjenigen, die Tourismus und Landwirtschaft im Blick haben und für einen Zulauf aus der Donau plädieren, und Naturschützer*innen, die notfalls den See austrocknen lassen würden. Mehr Fakten und weniger Emotion würden der Diskussion dabei zeitweise gut tun – und einige dieser Fakten liefert eine aktuelle Studie von Erich Draganits vom Institut für Geologie der Universität Wien, bei der er insbesondere auch die historische Entwicklung des Neusiedler Sees in den Blick genommen hat.

Der niedrige Wasserstand des Neusiedler Sees und die ausgetrockneten Lacken des Seewinkels sind derzeit in aller Munde und werden als Aushängeschild der Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels dargestellt und wasserwirtschaftliche Maßnahmen zu deren „Rettung“ diskutiert.

Doch bevor man zum Graben von Kanälen schreitet, wäre man gut beraten, sich insbesondere die Vergangenheit des Sees näher anzusehen. Im Fall des Neusiedler Sees wird beispielsweise häufig davon ausgegangen, dass dieser bereits seit vielen Jahrhunderten in der jetzigen Form als „Steppensee“ mit der Wulka als einzigen nennenswerten Zufluss und ohne natürlichen Abfluss existiert. Eine aktuelle Studie, die am Institut für Geologie der Universität Wien durchgeführt und nun von Erich Draganits, Michael Weißl, András Zámolyi und Michael Doneus bei Springer publiziert wurde, zeigt jedoch, wie jung dieses System eigentlich ist – und dass der See in seiner jetzigen Form nicht nur von menschlichen Einflüssen geformt, sondern auch von ihnen gefährdet wurde und wird.

Der Neusiedler See von heute ist nicht der von früher

Die Studie untersuchte die Entwicklungsgeschichte des Neusiedler Sees und der Lacken in geologischen Zeiträumen – unter anderem auch darum, weil hydrologische und klimatische Aufzeichnungen kaum weiter als 200 Jahre in die Vergangenheit zurückreichen und deshalb geologische und historische Archive die einzigen Quellen darstellen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die heutigen hydrologischen Bedingungen des Neusiedler Sees von denen seiner Vergangenheit komplett unterscheiden.

Die ältesten Hinweise auf massive wasserwirtschaftliche Eingriffe stammen dabei aus dem Jahr 1568 und 1780, die beide die Zuflüsse aus dem Süden betrafen. Heute ist die Wulka der einzige nennenswerte Zufluss des Neusiedler Sees und der Neusiedler See vom Hanság durch eine Dammstrasse getrennt. Im Gegensatz dazu zeigen fast alle historischen topografischen Karten vor 1780 den See und den Hanság als zusammenhängendes Gebiet, in das die Ikva, Rabnitz und Kleine Raab entwässerten und einen Abfluss aus diesem Gebiet zur Kleinen Donau bei Győr.

2,5 Meter über dem heutigen Wasserspiegel

„Dies zeigt deutlich, dass der Neusiedler See in der Vergangenheit kein abflussloser See wie heute“, erklärt Erich Draganits, der Leiter der Studie am Institut für Geologie der Universität Wien. Der Wasserspiegel des Sees schwankte viel stärker als die Daten der modernen Aufzeichnungen zeigen. Seinen höchsten dokumentierten Wasserstand erreichte er beispielsweise während eines Raabhochwassers 1853 mit einer Höhe von 117,6 m über Adria – der Wasserspiegel des Sees lag somit mehr als 2,5 Meter über dem heutigen (knapp 115 m über Adria): „Das ist enorm viel, und dabei wurden auch weite Gebiete überschwemmt“, so der Geologe. Und nur 12 Jahre später, im Jahr 1865, war der See ausgetrocknet: „Die Schwankungen waren somit deutlich größer als heute.“

Den „Steppensee“ in seiner jetzigen Form gab es somit nicht – vielmehr war die Entwicklung damals viel dynamischer als heute. Durch die höheren Wasserstände hatte der See aber auch die Möglichkeit, sich in feuchten Jahren Wasserreserven aufzubauen, aus dem er dann in trockenen Jahren zehrte. „Dies wird heutzutage verhindert – schließlich sind die heutigen Siedlungen, Städte und Tourismusgebiete sehr nahe am Wasser gelegen, oft innerhalb seiner früheren Ausdehnung“, erklärt Draganits.

370 Lacken rund um den Neusiedler See

Die starken Veränderungen zu früher zeigen sich auch anhand der Lacken rund um den Neusiedlersee. „Während heute nur mehr rund 20 Lacken existieren, zeigt die Interpretation hochauflösender digitaler Gelände Modelle die frühere Existenz von mehr als 370 Lacken in diesem Gebiet“, so der Geologe.

  • Von Pingos und Thermokarst-Seen: Seit 1965 werden die Lacken des Seewinkels als Relikte von eiszeitlichen „Pingos“, das sind eisgefüllte Aufdomungen interpretiert. In unserer Studie zeigt sich jedoch, dass die Lacken vielmehr ehemalige Thermokarst-Seen sind, die sich durch die Erwärmung am Ende der letzten Eiszeit durch das Aufschmelzen von Eis im Porenraum des Bodens gebildet haben.

Auch hier ist viel mehr verloren gegangen als jetzt sichtbar ist. Es geht somit nicht um die Erhaltung des Status-quo, sondern darum, ein komplexes System auch mit Blick auf seine Vergangenheit zu verstehen. Und das sei eben gerade auch in diesem Bereich besonders wichtig: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten, sagte schon Helmut Kohl“ – und das gilt insbesondere auch bei der Planung wasserwirtschaftlicher Eingriffe in komplexe Systeme“, betont Draganits. Solche Eingriffe sollten ausschließlich im Kontext mit deren langfristiger Entwicklungsgeschichte und auf Basis umfassender Studien – beispielsweise zur Veränderung der chemischen Zusammensetzung und einer drohenden Algenblüte bei einer Zuleitung – durchgeführt werden.

  • Veränderungen genau abwiegen: Bevor man einen Zufluss aus der kleinen Donau andenkt, sollte genau abgewogen werden, wie das die ganz speziellen chemischen, mineralogischen und biologischen Eigenschaften des Sees ändern würde. Der Salzgehalt und das trübe Wasser des Neusiedler Sees sind ganz wichtige Parameter, die für seine Entwicklung essentiell sind, warnt der Geologe Erich Draganits.

Details dieser Studie finden sich im publizierten Buchkapitel.

Eine aktuelle Studie, die am Institut für Geologie der Universität Wien durchgeführt wurde, zeigt, wie jung das System Neusiedler See eigentlich ist – und dass der See in seiner jetzigen Form nicht nur von menschlichen Einflüssen geformt, sondern auch von ihnen gefährdet wurde und wird. Foto: © Erich Draganits

Foto: © Erich Draganits

In seiner Studie untersuchte der Geologe Erich Draganits die Entwicklungsgeschichte des Neusiedler Sees und der Lacken in geologischen Zeiträumen – unter anderem auch darum, weil hydrologische und klimatische Aufzeichnungen kaum weiter als 200 Jahre in die Vergangenheit zurückreichen und deshalb geologische und historische Archive die einzigen Quellen darstellen. Foto: © Erich Draganits

Es zeigte sich, dass der Wasserspiegel des Sees viel stärker schwankte, als die Daten der modernen Aufzeichnungen zeigen - teilweise lag der Wasserspiegel des Sees mehr als 2,5 Meter über dem heutigen Stand. Foto: © Erich Draganits

Erich Draganits im Neusiedler See. Foto: © Benjamin Huet

Die Schwankungen waren somit deutlich größer als heute. Durch die höheren Wasserstände hatte der See aber auch die Möglichkeit, sich in feuchten Jahren Wasserreserven aufzubauen, aus dem er dann in trockenen Jahren zehrte. „Dies wird heutzutage verhindert – schließlich sind die heutigen Siedlungen, Städte und Tourismusgebiete sehr nahe am Wasser gelegen, oft innerhalb seiner früheren Ausdehnung“, erklärt Draganits. Foto: © Benjamin Huet

Lacke im Burgenland. Foto: © Erich Draganits

In der Studie zeigte sich zudem, dass die Lacken des Seewinkels nicht aus eiszeitlichen „Pingos“, also eisgefüllten Aufdomungen, entstanden, sondern ehemalige Thermokarst-Seen sind. Foto: © Erich Draganits

Lacke im Burgenland. Foto: © Erich Draganits

Die starken Veränderungen zu früher zeigen sich auch anhand der Lacken rund um den Neusiedlersee - während es heute nur noch rund 20 Lacken gibt, zeigt die Interpretation hochauflösender digitaler Gelände Modelle die frühere Existenz von mehr als 370 Lacken in diesem Gebiet. Foto: © Erich Draganits