Vom Himmel über Gebirgen bis in ihre Tiefen

Die Alpen beschäftigen die Wiener GeophysikerInnen und MeteorologInnen gleichermaßen. Mit physikalischen Methoden analysieren die einen bis dato unerschlossene Tiefen des Gebirges. Die anderen erfassen Eigenarten des Gebirgswetters und klimarelevante Phänomene.

1. Feb. 2016

ForscherInnen vom Institut für Meteorologie und Geophysik wenden Mathematik und Geophysik an, um das System der festen Erde und der Atmosphäre zu untersuchen

 

Copyright: Pai-Shih Lee, Jade Mountain, www.flickr.com/photos/pslee999/15930668213/, creativecommons.org/licenses/by/2.0/, keine Änderungen

Die Entstehung der Alpen ist weitestgehend bekannt: Vor mehreren Millionen Jahren begann sich die Erdkruste als Folge einer Kollision des afrikanischen und europäischen Kontinents zu heben – und Europas größtes Gebirge hebt sich noch immer. Davon zeugen mitunter Erdbeben, die hochsensible Seismographen registrieren. Die Geophysik kann die durch Beben ausgelösten seismischen Wellen aber auch nutzen, um bisher unerschlossene Tiefen im Erdinneren zu ergründen. Über Erdbebenwellen hat die Arbeitsgruppe „Geophysik“ um Götz Bokelmann bereits großflächige Deformationsmuster des Alpenuntergrundes rekonstruieren können.

Geophysik spielt eine große Rolle bei der Suche nach und dem Umgang mit natürlichen Ressourcen und für das Verständnis von Gefahren aus Umwelt und Gesellschaft wie der Gefährdung durch Erdbeben."


Götz Bokelmann, Professor für Geophysik


Die Deformationen haben die ForscherInnen dabei von der sogenannten „Anisotropie“ ableiten können: Geodynamische Prozesse und die dadurch verursachten Deformationen führen dazu, dass sich Mineralkristalle im Erdinneren ausrichten. Diese kennzeichnet dann eine Vorzugsrichtung, die wiederum physikalische Eigenschaften beeinflusst, so z.B. eine charakteristische Doppelbrechung der seismischen Wellen. Von ihren Ausbreitungsrichtungen und Geschwindigkeiten „können wir wiederum die Deformationsgeometrie des Materials im Erdinneren ableiten“, sagt Götz Bokelmann. So konnte er nachweisen, dass die Ausrichtung der Kristalle im Untergrund der Alpen großteils der Topographie des Gebirges – also vor allem den Gebirgskämmen – folgt. „Das ist einer der deutlichsten Belege von Bergketten-paralleler Anisotropie weltweit“, sagt der Geophysiker. Gleichzeitig hätten sich auch systematische, bis dato noch nicht geklärte Abweichungen gezeigt. Die 2014 publizierte Studie hat Fragen aufgeworfen, die derzeit u.a. in dem europäischen Großprojekt „AlpArray“ untersucht werden.

Seismologie und Sicherheitsfragen

Geophysikalische Methoden erlauben heute Einblicke in den Aufbau von Europas größtem Gebirge, die in der rund 200 Jahre alten Erforschung der Alpen bis dato nicht möglich waren. „AlpArray“ will mit Hilfe der Geophysik – und unter Beteiligung von 18 Ländern – den Untergrund der Alpen präziser denn je erfassen. Das Institut für Meteorologie und Geophysik koordiniert dabei den österreichischen Beitrag: „AlpArray Austria“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF finanziert und hat 2015 ein flächendeckendes temporäres Netz aus seismischen Stationen in Österreich aufgebaut. Diese zeichnen über die nächsten zwei Jahre kleinste Bodenbewegungen auf. „Der gewonnene Datensatz wird auch helfen, ein besseres Verständnis über die Erdbebengefährdung zu erlangen“, sagt Bokelmann.

Die Anwendung geophysikalischer Methoden für gesellschaftsrelevante Fragen ist ein weiteres Ziel von Bokelmanns Gruppe: So erhebt das Team derzeit etwa das seismische Risiko in verschiedenen Regionen Österreichs und vor allem im Großraum Wien. Um künftige Erdbebenereignisse abschätzen zu können, werden dabei in Tropfsteinhöhlen vorkommende Stalagmiten untersucht, also vom Boden der Höhlen emporwachsende Gesteinszapfen. „Sind die Stalagmiten intakt, bedeutet dies, dass in den vergangenen rund 10.000 bis 20.000 Jahren kein Erdbeben stark genug gewesen ist, um die Stalagmiten umzuwerfen“, so der Arbeitsgruppenleiter. Über numerische Modellierungen ihrer Befunde leitet das Team die Erdbebenrisiken ab. In anderen Projekten entwickelt es etwa geophysikalische Methoden zum nachträglichen Nachweis von Atomwaffentests im Erdboden (in Zusammenarbeit mit der CTBTO – Organisation des Vertrages über ein umfassendes Verbot von Nuklearversuchen). Zudem nutzt es geophysikalische Verfahren, um potenzielle Risiken bei verschiedenen Arten der Energiegewinnung besser einschätzen zu können – etwa bei der Erdgasgewinnung aus Schiefergesteinen.

Atmosphärische Analysen

Die Arbeitsgruppe „Allgemeine Meteorologie und Klimatologie“ um Reinhold Steinacker hat sich auf Wetterphänomene in Gebirgen, besonders im Alpenraum, spezialisiert. Die Gruppe befasst sich dabei vor allem mit der „diagnostischen Modellierung“. Also mit der Frage, wie sich das aktuelle Wetter möglichst präzise bestimmen lässt. Dazu dient den ForscherInnen auch ihre eigens entwickelte „Vienna Enhanced Resolution Analysis“, kurz VERA – „ein auch international angesehenes Leitprojekt für die diagnostische hochauflösende Modellierung im Gebirgsraum“, sagt Steinacker.

Mit VERA lässt sich vereinfacht gesprochen das Wettergeschehen in Echtzeit im Alpenraum analysieren. Das System berechnet die räumliche Verteilung von Luftdruck, Temperatur, Wind und Niederschlag und befreit diese automatisch von Fehlern. Es erkennt sowohl systematische Fehler durch falsch kalibrierte Messgeräte sowie zufällige Fehler in der Folge von Übertragungsproblemen. VERA wird u.a. vom Aeronautischen Wetterdienst in Österreich eingesetzt. Die Gruppe um Steinacker hat dabei vor allem die kleinräumige Erfassung des Wettergeschehens zum Ziel. So installiert sie ihre Messgeräte bisweilen in Zwei-Kilometer-Abständen und spannt damit ein dichtes Netz von Bodenstationen in ihren Untersuchungsgebieten – zum Vergleich: Globale Wettermodelle beziehen ihre Daten in der Regel von Stationen mit Abständen von 25 bis 30 Kilometern. Dabei sei jüngst nachgewiesen worden, so Steinacker, dass die Einbettung von kleinräumigen, regionalen Datensätzen in globale Modelle deren Prognosequalität durchaus positiv beeinflussen kann.

Unser Ziel ist eine Verbesserung der Wetterprognose. Wir haben uns dabei auf das diagnostische Modellieren fokussiert: Je genauer man das aktuelle Wetter kennt, desto besser kann man es vorhersagen.“


Reinhold Steinacker, Professor für Allgemeine Meteorologie


Zu den besonderen Ausprägungen des Gebirgswetters zählen sogenannte Kaltluftseen: Diese können sich temporär in Dolinen bilden, also in charakteristischen Hohlform typischerweise in Kalkgesteinen. Ein Charakteristikum sind ihre extrem tiefen Minimumtemperaturen. In einer Doline in den Ybbstaler Alpen, wurden minus 52,6 Grad Celsius gemessen. Es hält damit den Kältetemperaturrekord in Mitteleuropa. In einem aktuellen Projekt konnten die Wiener ForscherInnen erheben, dass die Wintertemperaturen in der Doline in den letzten zehn bis 15 Jahren nie mehr ähnliche Tiefstände erreicht haben wie im Rekordjahr 1932. Als eine Ursache vermuten die ForscherInnen – neben dem Treibhauseffekt – auch stärkere „Rückkopplungseffekte“ zwischen der Bio- und Atmosphäre. Extrem tiefe Minima, hohe Schneedecken von bis zu 3,5 Metern stellen besondere Anforderungen an die Messeinrichtungen. Manfred Dorninger, ein Mitglied der Gruppe, hat das Messsystem MetLift entwickelt, welches die Höhe der Sensoren automatisch an die Höhe der Schneedecke anpasst und damit das Einschneien verhindert. Der energieautarke Prototyp ist seit mehreren Jahren am Trafelberg in Niederösterreich im Einsatz.

Numerische Modellierung & Klimaforschung

Die Forschungsgruppe „Theoretische Meteorologie“ befasst sich vor allem mit der Beschreibung und numerischen Modellierung von Vorgängen bei der Überströmung von Gebirgen. Die diagnostische Erfassung von Klimaänderungen und Klimaanomalien ist ein weiteres großes Forschungsthema. Im Rahmen von FWF- Projekten und des EU-Großprojektes ERA-CLIM2 korrigiert der Meteorologe Leopold Haimberger etwa Daten des globalen Radiosondennetzwerkes, um sie für die Erstellung globaler atmosphärischer Klimaanalysen über mehrere Jahrzehnte hinweg besser nutzbar zu machen. Diese Klimaanalysen wiederum nutzen die ForscherInnen, um globale und regionale  Energietransporte zwischen Atmosphäre und Ozeanen zu erheben. Deren Kenntnis ist fundamental für das Verständnis von Veränderungen des Klimasystems. Die WissenschafterInnen können namhafte Beiträge zu relevanten Klimaberichten wie den IPCC-Bericht und den österreichischen APCC-Bericht vorweisen.

Institut für Meteorologie und Geophysik