Leben durch die Zeit

PaläontologInnenen blicken zurück auf vergangene Erdzeitalter und rekonstruieren die Evolution – aber ihre Arbeit weist auch in die Zukunft: Sie kann zeigen, wie vom Menschen unbeeinflusste Ökosysteme ausgesehen haben und darauf aufbauend Vorschläge für ihr künftiges Management liefern.

1. Feb. 2016

Ausgestorbener Sägerochen, Libanopristis hiram, aus dem Plattenkalk der Oberkreide des Libanon (vor ungefähr 95 Mio. Jahren).

 

Copyright: R. Gold, Institut für Paläontologie

Wie haben sich Formen von Lebewesen ausgebildet? Wie sind Skelettstrukturen und ihre Anpassungen entstanden? Wie lässt sich die Entwicklung von Wirbeltieren rekonstruieren? Diese Fragen beschäftigen Jürgen Kriwet und seine Arbeitsgruppe „Evolutionäre Morphologie“. Dabei bewegen sich die ForscherInnen zwischen dem Jetzt und vergangenen Jahrmillionen. Um die Evolution des Lebens und die verschiedenen Anpassungsformen von Arten abzuleiten, braucht es auch das Studium an heute lebenden Organismen.

Hört, hört!

Das Innenohr ist für das Hören verantwortlich – und ein Gleichgewichtsorgan. Seine Anatomie variiert von Art zu Art und lässt erkennen, wie sich Tiere fortbewegen. Das konnte Kriwets Mitarbeiterin Cathrin Pfaff 2015 in einer Studie an Eichhörnchen belegen. Gleithörnchen haben dünnere Bogengänge, am Boden lebende Eichhörnchen vergleichsweise dickere. Die Korrelation zwischen Anatomie und Fortbewegung wollen die ForscherInnen nun auch bei Beuteltieren, Vögeln und Knorpelfischen testen. Ziel sei, so Pfaff, „Daten der heute lebenden Tiere mit jenen von Fossilien zu vergleichen“. So könne man letztendlich auch auf die Fortbewegungsweise von längst ausgestorbenen Tieren schließen. Die Rekonstruktion des Innenohr-Bauplans über die Jahrmillionen hinweg gelang bereits bei der Katze, erzählt Arbeitsgruppenleiter Jürgen Kriwet. Ausgangspunkt war hier ein Fossil von Pseudaelurus – eine der ältesten Katzen der Welt.


Was bedingt funktionelle Ausprägungen, was genetische und epigenetisch gesteuerte Anpassungen? Unsere Forschung am Innenohr hat gezeigt: Hier kann man Unterscheidungen treffen.“


Jürgen Kriwet, Professor für Paläobiologie mit Schwerpunkt
Wirbeltierpaläontologie

Ein am Institut vorhandenes „Mikro-CT“ sowie moderne Bildanalysetechniken eröffnen den ForscherInnen heute Einblicke, die bis vor einigen Jahren noch nicht möglich waren. Darüber können 3D-Aufnahmen und Rekonstruktionen von Morphologien verschiedenster Körperteile in extrem hoher Auflösung angefertigt werden – und zwar, ohne die Proben physisch zu zerstören. Über spezielle Färbemethoden lassen sich sogar Muskeln, Weichteile sowie Nervenzellen sichtbar machen. Das Mikro-CT kommt auch dem zweiten großen Forschungsschwerpunkt der PaläobiologInnen zugute: entwicklungsbiologische Prozesse in einem evolutionären Zusammenhang verstehen zu wollen.

Evolution und Individualentwicklung

"Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese." 1866 postulierte Ernst Haeckel seine biogenetische Grundregel, derzufolge die vorgeburtliche Entwicklung eines Lebewesens die Entwicklung der  Stammesgeschichte in sehr kurzer Zeit wiederholt. Das war lange umstritten. „Heute erkennen wir, dass es hier klare Zusammenhänge gibt“, sagt Jürgen Kriwet. Mit seinem Team studierte er diese – und betritt damit Neuland: So untersuchen die ForscherInnen um Kriwet derzeit etwa die Individualentwicklung von Haiembryonen. Sie wollen zum Beispiel verstehen, wie ihre Kiefer entstanden sind, um sie dann mit fossilen Daten zu vergleichen.

Über die Evolution und Anpassung von Kieferzähnen wie auch über die Unterschiede zwischen den Arten ist nach wie vor kaum etwas bekannt. „Knorpelfische sind die ursprünglichsten kiefertragenden Wirbeltiere, die heute noch leben. Mit ihnen können wir versuchen herauszufinden, wie es an der Basis des Wirbeltierstammbaums aussieht“, sagt Jürgen Kriwet. Er und sein Team kooperieren bei ihren Forschungen mit internationalen Institutionen, darunter etwa das Naturkundemuseum London, das Aquarium in Okinawa wie auch britische und japanische ForscherInnen. 2015 konnten Kriwet und Pfaff anhand der Analyse von fossilen Rochen und Haien bereits zeigen, dass deren Kieferzähne nicht direkt von den äußeren Körperschuppen abstammen – und damit eine bisherige Annahme widerlegen.

Umwelt damals und heute

Die Wiener Paläobiologie konnte also, vereinfacht formuliert, schon einen Teil der Evolutionsgeschichte von Wirbeltieren umschreiben. Die Arbeitsgruppe um Institutsleiterin Petra Heinz befasst sich hingegen mit Paläoökosystemen, darunter etwa mit der Rekonstruktion mariner Ökosysteme aus vergangenen Erdzeitaltern.

Das Faszinierende an der Paläobiologie ist die Verbindung zwischen dem Leben auf der Erde, das war, und dem Leben, das ist. Und manchmal zu überlegen, was noch kommen wird."


Petra Heinz, Professorin für Paläoökosysteme

Marine Lebensräume sind auch ein Schwerpunkt der Arbeitsgruppe um Martin Zuschin: Hier nutzen die ForscherInnen paläontologische Methoden, um Umweltänderungen in marinen Lebensräumen zu erheben und damit ihren heutigen Zustand einschätzen zu können. Ihre Forschung konzentriert sich auf den Persischen Golf und die Nordadria. Der Umwelt-Paläontologe Zuschin ist auf schalentragendes wirbelloses Getier spezialisiert, etwa Muscheln und Schnecken, deren tote Schalen radiometrisch und mit anderen Methoden datiert werden.

„Über den Vergleich von lebender und datierter toter Fauna, z.B. über ihre Größe, ihre Verteilung und ihre Vielfalt, können wir Rückschlüsse auf Lebensbedingungen und ihren Wandel über längere Zeiträume hinweg ziehen“, sagt Zuschin.

Die Nutzung von paläontologischen Methoden kann Einblick geben in Umweltbedingungen vor mehreren Jahrzehnten bis Jahrhunderten. So kann man heutige Situationen besser einschätzen und entsprechende Voraussagen treffen.“


Martin Zuschin, Professor für Paläontologie

Über die Analyse von Muscheln, Schnecken und ihren Überresten am Meeresboden hat Postdoc Paolo Albano zum Beispiel 2015 im Persischen Golf (Arabischer Golf) den Einfluss von Ölplattformen auf die Umwelt erhoben. Er konnte zeigen, dass Ölplattformen im Normalbetrieb weitaus weniger Einfluss auf ihre Unterwasserumwelt haben als meist angenommen.

In der Nordadria

In der Nordadria „gruben“ die ForscherInnen tiefer, um in einem anderen Projekt den Zustand des Ökosystems und seine Veränderung zu erheben: Neben Analysen der Meeresbodenoberfläche nahmen sie dort auch Bohrkerne. Dabei hat in Gebieten mit relativ geringem Sedimenteintrag ein 1,5 Meter langer Bohrkern bereits das gesamte Holozän ­– rund die letzten 10.000 Jahre – abgebildet. Im Gegensatz dazu erfasst ein Kern in Gebieten mit viel Sedimenteintrag wie am Po-Delta gerade einmal 100 Jahre.

Die ForscherInnen untersuchten bei ihren Tauchgängen und Unterwasserexpeditionen Sediment- wie auch Schadstoffeinträge an sieben verschiedenen Standorten und verglichen die aktuelle Artenvielfalt und ihre Zusammensetzung mit der Faunenentwicklung von subfossilen Muscheln, Schnecken und Co. Eine Erkenntnis: Heute sind vor allem die Gesellschaften der Arten anders beschaffen als früher. Viele Änderungen sind im Zuge des holozänen Meerespiegelanstieges passiert; die ForscherInnen haben bei ihren Untersuchungen aber auch anthropogen ausgelöste Wechsel der Umweltbedingungen identifiziert. Ihre Forschung bildet Grundlagen für potenzielle Renaturierungsmaßnahmen: Es gibt nun Anhaltspunkte für eine „gesunde“ Nordadria. Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchungen: Das Ziehen von Schleppnetzen über den Meeresboden, wie es seit Jahrzehnten in der Nordadria praktiziert wird, ist derzeit die größte Gefährdung für das Ökosystem. Ohne das „Dredschen“ sei Potenzial zur Selbstregulation vorhanden

Migration am Meeresboden

In einer weiteren Arbeit konnte Doktorand Rafal Nawrot zeigen, wie die Faunenmigration vom Roten Meer über den Suezkanal ins Mittelmeer verläuft und warum gerade große Muscheln besonders erfolgreich sind. „Die Studie zeigt, was in den letzten Jahrzehnten passiert und lässt damit auch Voraussagen zu, wie sich die Fauna künftig entwickeln wird“, sagt Zuschin. Auch wenn die Paläobiologie häufig rückwärts blickt, so trägt sie auch dazu bei, Konzepte für die Zukunft zu entwickeln.

Institut für Paläontologie