Identitäten im Klassenzimmer verhandeln

22.11.2017

Um Stereotype, Social Media-Algorithmen und interessengeleitete Berichterstattung einordnen zu können, muss man sie erst einmal (er)kennen. In einem „Sparkling Science“-Projekt erarbeiten Wiener SchülerInnen mit WissenschafterInnen des Instituts für Geographie und Regionalforschung, wie Jugendliche sich selbst und andere in Raum, Identität und Status verorten. Ihr Forschungsziel: Medienkompetenz und geschultes Peer-Mentoring gegenüber Rechtspopulismus.

In der Migrationsgesellschaft gibt es kaum mehr national, ethnisch oder kulturell eindeutig zuordenbare Wiener oder Wienerinnen, so es sie jemals gegeben hat. Das zeigt sich auch in den Klassenzimmern. Hier kommen Jugendliche zusammen, die aufgrund unterschiedlicher familiärer Bezüge, Herkunft, Traditionen oder auch Abgrenzung mehrere „Bindestrich-Identitäten“ in sich vereinen. Gleichzeitig verfolgen sie oft einen globalisierten Lebensstil, wenn es um Interessen, Kleidung oder Konsum geht. Viele Lehrende erleben im Unterricht: Natio-ethno-kulturelle Bezugspunkte und wie sie bewertet werden, sorgen unter den Heranwachsenden für Zusammenhalt oder Spannungen.

Zugehörigkeit und Abgrenzung

Für das Fachdidaktik-Team um Christiane Hintermann war es vergleichsweise einfach, drei Lehrer zu gewinnen, die sich mit ihrem Unterricht (Geographie und Wirtschaftskunde) im Projekt „MiDENTITY“ beteiligen wollten. Dieses wird über das Programm „Sparkling Science“ des Wissenschaftsministeriums gefördert, welches gemeinsame Forschung von WissenschaftlerInnen und SchülerInnen unterstützt.

„MiDENTITY“ zielt auf das gemeinsame Erforschen der Zusammenhänge von Medienkonsum, Identitätskonstruktion, räumlicher Verortung, Zuschreibungen und Kennzeichen der eigenen Gruppe („Ingroup“) sowie Abgrenzung von anderen („Outgroup“) ab. Es sollen ein Werkzeug zur kritischen Medienanalyse für den Einsatz in Schulen und eine fachliche Vertiefung für die Ausbildung von Peer-MentorInnen in Kooperation mit dem „Österreichischen Zentrum für Persönlichkeitsbildung und soziales Lernen“ erstellt werden.

Die WissenschafterInnen reflektieren mit Wiener Jugendlichen räumliche Bezugspunkte für die Konstruktion der eigenen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten. Derzeit wertet das Fachdidaktik-Team eine erste quantitative Erhebung mit SchülerInnen der Sekundarstufe aus: Wie verorten sich die rund 1.100 befragten jungen WienerInnen? Als OttakringerInnen, WeltbürgerInnen, ChilenInnen, ÖsterreicherInnen, EuropäerInnen oder TürkInnen? Welche Merkmale verbinden sie mit ihren jeweiligen (Teil)Identitäten? Und weil ein „Ich“ und „Wir“ die Abgrenzung von einem „Du“ und den „Anderen“ braucht, erheben Hintermann und ihr Team zudem, wie Jugendliche sich und andere aufgrund der Verortung als Person auf- oder abwerten.

Erhebung und Gruppendiskussion

Im nächsten Schritt setzen sich drei Klassen an den drei Partnerschulen – die BRG Krottenbachstraße im 19. Wiener Gemeindebezirk, die BHAK/BHAS Pernerstorfergasse im 11. Bezirk und das Schulzentrum Ungargasse im 3. Bezirk - in Gruppendiskussion mit den Ergebnissen der Erhebung auseinander. Die forschenden SchülerInnen haben den Fragebogen nicht ausgefüllt, sie können die Ergebnisse daher unbefangen und kritisch kommentieren.

Zudem werden im Zuge von drei Workshops in diesem Schuljahr den SchülerInnen Theorie und Methodik der kritischen Medienanalyse vermittelt. Stichworte aktueller Diskurse rund um Identität und Zuschreibungen recherchieren die SchülerInnen in Medien ihrer Wahl und veröffentlichen sie im Weblog, wo sie wechselseitig auch kommentieren können. Zuletzt sind die drei teilnehmenden Klassen aufgefordert, ihre Erkenntnisse aus dem Projekt auf eine von ihnen selbst gewählte Art zu veröffentlichen.

„Identität ist veränderbar“

„Anlass für das Projekt ist der erstarkende Rechtspopulismus - nicht nur - in Wien, der vereinfachende Identitätszuschreibungen politisch instrumentalisiert und so gesellschaftliche Grenzziehungen und Ausschlüsse rechtfertigt“, sagt die Projektleiterin Christiane Hintermann. Medienkompetenz bedeute zu erkennen, welche Rolle Medien bei der Verbreitung der Fremd- und Feindbilder spielen. Daher habe die kritische Medienkompetenz im Rahmen eines politisch bildenden Geographie- und Wirtschaftskundeunterricht eine große Bedeutung. Hintermann will den Jugendlichen vermitteln, „dass Identität nicht naturgegeben und fix ist, sondern konstruiert und daher veränderbar“.

MiDENTITY steht für „(Mediale) Identitätskonstruktionen, transnationale Selbstverortungen & verkürzende Fremdzuschreibungen in der Migrationsgesellschaft am Beispiel von Jugendlichen in Wien“ (Laufzeit bis August 2019)

Gruppe von unterschiedlichen SpielzeugmännchenMännchen

Diversität (Copyright: Thomas Lohr 2016)

Von Schüler gemaltes Plakat zum Thema Flüchtlingswelle

Überlegungen zu "Flüchtlingswelle" (Copyright: Projekt Migration im Schulbuch 2013)

Diverse Zeitungen und ein Mobiltelefon mit Schlagzeilen zu Identitäten

Analyse von Medien als Teil des Projektes (Copyright: Projekt MiDENTITY 2017)

Projektteam - Gruppenbild

Das fünfköpfige Projektteam v.l.n.r.: Daniel Raithofer, Viola Kessel, Herbert Pichler, Christiane Hintermann und Felix Bergmeister (Copyright: Projekt MiDENTITY 2017)