Planet Erde
Ob Massenbewegungen des Sediments oder Kreisläufe von Treibhausgasen, ob Migration über Ländergrenzen hinweg oder regionale Wanderungsprozesse – unsere Welt ist in Bewegung. Die Wiener GeographInnen erfassen diese in vielen Facetten.
1. Feb. 2016
Lawinen, Erdbeben und Hangrutschungen können eine große Kraft entfalten – bisweilen mit schweren Folgen für Natur und Mensch. Während Schneelawinen und Beben seit einigen Jahrzehnten unter genauer Beobachtung der Forschung stehen, „haben wir bei gravitativen Massenbewegungen wie Hangrutschungen, Muren und Steinschlag nur sehr wenige kontinuierliche Monitoringprogramme“, sagt Thomas Glade, Leiter der Arbeitsgruppe „Geomorphologische Systeme und Risikoforschung“. Erdoberflächenprozesse, Naturgefahren und ihre Risikoabschätzung ist ein Forschungsschwerpunkt seiner Gruppe.
Dem Manko von Langzeitstudien bei Hangrutschungen begegnen die Wiener GeomorphologInnen etwa mit dem seit 2014 laufenden Projekt „NoeSLIDE“: Sie haben ein Frühwarnsystem für Hangrutschungen, Muren und Steinschlag in verschiedenen Gebieten in Niederösterreich etabliert. Über den kombinierten Einsatz von Sensoren und Laserscannern analysiert das Team um Glade die verschiedenen Fließ-, Sturz- und Rutschprozesse. Es erhebt auch externe Einflüsse wie Niederschlag, Sonnenstrahlung und Temperatur. Gleichzeitig sollen Grundlagen erarbeitet werden, wie sich künftig das beispielsweise von Hangrutschungen ausgehende Risiko minimieren lässt, was vorbeugend getan werden kann und was im Notfall zu tun ist – bis hin zur Risikokommunikation. Im Projekt „BioSLIDE“ gehen die ForscherInnen hingegen der Frage nach, inwiefern Veränderungen bei der Vegetation bzw. Biomasse die Bewegungsdynamik von Hängen bestimmt.
Umweltprozesse, Umweltgefahren
Aktuelle Umweltprozesse und Umweltprobleme sind auch ein Arbeitsschwerpunkt der „Geoökologie“, der zweiten Vertreterin der naturwissenschaftlichen Geographie in Wien. Ein Beispiel: Klimagase.
Wie sehen die Austauschprozesse von klimarelevanten Spurengasen zwischen Boden, Pflanzen und Atmosphäre aus? Wie verändern sie sich unter dem Einfluss des Menschen? Diesen Fragen widmen sich GeoökologInnen um Arbeitsgruppenleiter Stephan Glatzel am Beispiel der Moore, einem eher jüngeren Forschungsschwerpunkt der Wiener Geographie: Moore sind per se CO2-Senken, vorausgesetzt, sie sind ungestört. Bei der Nutzung von Mooren oder ihrer Trockenlegung werden klimaschädliche Gase wie CO2 freigesetzt.
Bis zu drei Prozent der Fläche Österreichs ließe sich nach internationaler Definition (i.e. Böden mit 30 Zentimeter Torfauflage) zu Mooren zählen, schätzt Stephan Glatzel. Doch die Moorkartierungen seien unvollständig und für genaue Angaben zu alt, nur Moore in den Naturschutzgebieten seien genau kartiert. Zudem: Moore sind in der aktuellen Klimabilanz Österreichs nicht erfasst. „Wir wissen nicht, wie sich ihre Berücksichtigung auf die Bilanz auswirken würde“, so Glatzel. So untersuchen die ForscherInnen etwa klimarelevante Veränderungen von Mooren beispielhaft im Pürgschachen Moor in der Steiermark. Es hat sich bereits gezeigt, dass die große Dürre im Sommer 2015 einen verstärkten Einzug der Latschen in die Moore zur Folge hatte.
Rund um den Menschen
Ob über bauliche Maßnahmen, über die landwirtschaftliche Nutzung oder als Verursacher von klimaschädlichen Emissionen: Der anthropogene Einfluss auf Ökosysteme und die Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft spielen in der Physischen Geographie eine große Rolle. Den Mensch in seinen Mittelpunkt stellt der zweite große Zweig der Wiener Geographie: Die HumangeographInnen untersuchen dabei verschiedene Aspekte des demographischen Wandels, ländliche Abwanderung und urbane Zuwanderung, urbane Räume sowie Fragen der Raumordnung.
In Österreich steigt die Lebenserwartung laut Statistik im Schnitt um zwei Jahre pro Jahrzehnt. Ältere Menschen werden in den kommenden Jahren im Vergleich zu anderen Altersgruppen stark zunehmen. Es sind Konzepte gefragt, wie sich ältere Menschen möglichst lange und gut in das gesellschaftliche Leben integrieren lassen – z.B. über eine Berufstätigkeit oder ehrenamtliche Aufgaben. „Aktives Altern“ („Active Aging“) ist Untersuchungsgegenstand zweier aktueller Dissertationsprojekte in der von Heinz Fassmann geleiteten Arbeitsgruppe „Angewandte Geographie“. In die durch Abwanderung von Jüngeren geprägten ländlich-peripheren Regionen in Österreich sind in den letzten zehn Jahren verstärkt Personen am Ende ihrer Erwerbstätigkeit zugewandert. So etwa im Südburgenland. Es stellt sich die Frage, inwiefern es sich dabei um Neuzuwanderungen handelt, warum die älteren Menschen zuwandern und woher sie stammen. Zudem soll das Potenzial dieser Zuwanderergruppe für die Gemeindeentwicklung erhoben werden.
„Der demographische Wandel und die Abwanderung aus strukturschwachen Regionen unterliegen auch einem starken Gender Bias“, sagt Robert Musil, Arbeitsgruppenleiter der „Humangeographie“: „Es wandern mehr Frauen als Männer aus ländlichen Gebieten in urbane Räume ab.“ Welche Bedeutung wiederum der Gender-Aspekt für die Regionalentwicklung hat, haben ForscherInnen seiner Gruppe untersucht: Das Projekt „Gender Atlas“ (genderatlas.at) zeigt beispielsweise auf, wo es in Österreich Bürgermeisterinnen gibt (1948 wurde in Niederösterreich erstmals eine Frau als Bürgermeisterin angelobt) und in welchen Regionen Österreichs junge Frauen und Männer besonders gebildet sind. Der interaktive Online-Atlas wurde im Herbst 2015 präsentiert.
Auf dem Land und in der Stadt
Die Integration von ethnischen Minoritäten in Wien, die Entwicklung von innerstädtischen Stadtteilen in fünf europäischen Großstädten wie auch die Entwicklung der Finanzzentren in Europa und Stadtagglomerationen sind weitere Themen der Wiener HumangeographInnen. Auch Raumordnung und Raumordnungssysteme sind Forschungsgegenstand: So verglich ein Team um Hans-Heinrich Blotevogel aus der Arbeitsgruppe Angewandte Geographie bereits die verschiedenen Raumplanungssysteme in europäischen Ländern. Die ForscherInnen interessierte, wie diese mit aktuellen Herausforderungen wie dem Klimawandel oder dem demographischen Wandel umgehen und wie bzw. wie schnell die Institutionen auf diese reagieren.
Die Geographie wird durch die Natur- und Sozialwissenschaften charakterisiert. Bei der Lösung von Problemen arbeiten die Physische und die Humangeographie zusammen. Das ermöglicht die doch gerade heute so wichtige Betrachtung vernetzter Zusammenhänge.“
Hans-Heinrich Blotevogel, Professor für Angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung
Dem räumlichen Strukturwandel, der regionalen Entwicklungsdynamik bis hin zu demographischen Veränderungen wie Alterungsprozessen und ihren Auswirkungen widmet sich darüber hinaus auch die Arbeitsgruppe „Regionalentwicklung“ – mit Schwerpunkt auf Südost- und Südasien. Die bis zu seiner Pensionierung von Helmut Wohlschlägl geleitete Gruppe hat ab Anfang 2016 Patrick Sakdapolrak übernommen. Der neue Professor für Bevölkerungsgeographie und Demographie analysierte zuletzt beispielsweise Klimawandel, Migration und soziale Widerstandskräfte ländlicher Gemeinden in Thailand. Zukünftig wird die Schnittstelle zwischen Bevölkerung, Umwelt und Entwicklung im Forschungsfokus der von Sakdapolrak geleiteten Arbeitsgruppe stehen.
Visualisierung von Geodaten
Die Geographie sucht nach dem Gesamtverständnis unserer physischen und sozialen Welt – samt ihrer Wechselwirkungen. Die Modellierung von Prozessen und Veränderungen ist dabei ein zentrales Werkzeug. Auch die Forschung zur Visualisierung von geographischen Informationen hat in Wien Tradition. So hat sich die Arbeitsgruppe „Kartographie und Geoinformation“ z.B. mit ihren Arbeiten zu den sogenannten „Hypergloben“ ein internationales Renommee aufgebaut. Wolkenbänder ziehen in Echtzeit um die Erde, die Kontinentalplatten verschieben sich in Zeitraffer, „Hot Spots“ der klimarelevanten Emissionen werden sichtbar - mit Hilfe digitaler Technologien ist der Globus zu neuem Leben erweckt worden.
Unser Institut vereint die Geographie, die Kartographie und die Geoinformationswissenschaft. Diese ergänzen einander in den umfassenden Aufgaben im Spannungsfeld Umwelt – Gesellschaft – Risiko.“
Wolfgang Kainz, Professor für Geographie und Kartographie und Institutsleiter
Über die Projektion von digitalen Geodaten auf den Globenkörper „lassen sich globale Sachverhalte aller Art bestens vermitteln“, sagen Arbeitsgruppenleiter Wolfgang Kainz und Andreas Riedl, Leiter der Forschungsgruppe Hyperglobus. Die Uni Wien war 2005 die erste Forschungseinrichtung Europas, die einen taktilen Hyperglobus präsentierte. Heute umfasst ihre mit verschiedenen Kooperationspartnern entwickelte „Globenbibliothek“ über 300 geographische Themen. Für den Alltagsgebrauch sind die Globen noch zu teuer (rund 100.000 Euro). Es wird aber auch bereits an kleineren, erschwinglicheren Erdkugeln gearbeitet – als Projektionsfläche von Bewegungen auf unserem Planeten.
Fachdidaktik: Lehramt Geographie und Wirtschaftskunde
Die Arbeitsgruppe „Fachdidaktik Geographie und wirtschaftliche Bildung“ ist für die fachdidaktische und schulpraktische Ausbildung der rund 1.700 Studierenden des Lehramtsstudiums Geographie und Wirtschaftskunde (GW) verantwortlich. „Fachdidaktik verstehen wir dabei nicht nur als theoretisches Fundament einer gelungenen Schulpraxis, sondern als sozialwissenschaftliches Forschungsfeld“, sagt Christiane Hintermann. Sie koordiniert seit Frühjahr 2015 die Fachdidaktik. In diesem Forschungsfeld werden Impulse aus der Fachwissenschaft, den Fachdidaktiken verwandter Disziplinen, der Bildungswissenschaft und der Schulpraxis aufgegriffen, diskutiert und für die Ausbildung im Lehramt GW umgesetzt. Studierende sollen die Fähigkeit entwickeln, den Unterricht betreffende didaktische, methodische und inhaltliche Entscheidungen theoretisch begründen zu können. Neben den aktuellen Forschungsschwerpunkten Migration und Diversität sowie Schulbuchanalyse werden zukünftig verstärkt Fragen der Politischen Bildung in GW, des Transfers geographischer Basiskonzepte (wie „place“ und „space“) in den Unterricht sowie der Umsetzung kompetenzorientierter Lehrpläne bearbeitet. Die Arbeitsgruppe ist in die Herausgabe und Redaktion der Zeitschrift GW-Unterricht (http://www.gw-unterricht.at/) eingebunden. Neben nationalen und internationalen Kontakten kommt der Kooperation mit vielen Partnerschulen eine besondere Bedeutung zu.